Der Anfang

Die Entwicklung des Space Shuttle - Systems als Ganzes erfolgte in vier Phasen A bis D. In der Phase A erfolgten Machbarkeitsstudien, in Phase B wurden Projektdefinitionen vorgenommen. In der Phase C erfolgte das Design des Space Shuttles und Phase D war der Herstellung und der Anwendung des Shuttles vorbehalten.
Die Geschichte der Space Shuttle begann formell, als am 30. Oktober 1968 das Manned Spacecraft Center und das Marshall Space Flight Center gemeinsam einen Aufruf an die Raumfahrt-Industrie veröffentlichten und um Vorschläge für Entwicklung und Bau eines wiederverwendbaren Raumgleiters baten. Mehrere Firmen bekundeten ihr Interesse.
Am 23. Januar 1969 beauftragte die NASA schließlich die vier Firmen General Dynamics, Lockheed, McDonnel Douglas und North American Rockwell im Wettbewerb der "Phase A" mit Studien zur Entwicklung des Space Shuttles mit neuartigen Flüssigtreibstofftriebwerken. Die Aufträge hatten einen Wert von 300.000 $ und sollten nach 10 Monaten beendet sein. Als fünfte Firma ging Martin Marietta ins Rennen, die jedoch auf eigene Kosten am Wettbewerb teilnahmen.
Die Entwicklung des Hauptantriebssystems der Raumfähren, der Space Shuttle Main Engines stand unter Leitung des Marshall Space Flight Centers in Huntsville, Alabama, dessen Direktor damals Wernher von Braun war, im Rahmen eines eigenständigen Wettbewerbs unabhängig vom Wettbewerb um den Space Shuttle Orbiter. Den an der Orbiterentwicklung beteiligten Firmen wurde die Entwicklung eigener Main Engines nicht erlaubt. Die Entwicklung der Main Engines erfolgte jedoch in Anlehnung an das Space Shuttle Programm ebenfalls in definierten Phasen.

Main Engine Phase A

Die Entwicklungsgeschichte der Space Shuttle Main Engines begann bereits Ende 1968 als die NASA die drei Firmen Rocketdyne, Pratt & Whitney und Aerojet General als Teilnehmer des Phase A-Wettbewerbs auswählte. Alle drei Firmen hatten bereits früher große Triebwerke für NASA oder Air Force hergestellt und waren die einzigen drei größeren Firmen, die Raketentriebwerke produzierten. Die Herausforderung war nun jedoch, ein kleines, kompaktes, wiederverwendbares Triebwerk zu bauen, dessen Schub während des Steigfluges reguliert werden kann, um den aerodynamischen Belastungen begegnen zu können.

Die Firmen arbeiteten an unterschiedlichen Triebwerksdesigns. Pratt & Whitney arbeitete gemeinsam mit der Air Force an einem Triebwerk mit glockenförmiger Düse (XLR-129). Die Einschränkungen dieses Düsendesigns sollten durch höhere Triebwerksdrücke wett gemacht werden. Der höhere Druck würde die Abgasgeschwindigkeit erhöhen und das Triebwerk könnte kompakt und leicht gehalten werden. Das XLR-129-Triebwerk arbeitete mit flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff mit stufenweiser Verbrennung (staged combustion).
Rocketdyne ging im Gegensatz dazu die Herausforderung anders an. Da bei glockenförmigen Düsen der äußere Luftdruck gerade nach dem Start, wenn der meiste Schub benötigt wird, die Ausdehnung der Abgase und den Triebwerksausstoß vermindert und sowohl den Schub als auch die Abgasgeschwindigkeit reduziert, sollte die Lösung in einem neuartigen Triebwerk liegen: dem Aerospike-Triebwerk. Auch dieses Konzept erlaubte eine kompakte Bauweise und lieferte nahezu den gleichen Schub auf Seehöhe wie im Vakuum. Jedoch war die damit zu erreichende Leistung etwas geringer als bei Triebwerken mit Glockendüse.

Im August 1969 sandte Wernher von Braun Telefaxe mit einer Anzahl spezifischer Fragen an die Raketenhersteller des Landes. Zu den Fragen gehörten:

  1. Ist die Industrie in der Lage, sich auf ein Design und die Entwicklung eines Triebwerks festzulegen, das einen Schub von 800.000 Pfund in Seehöhe leistet und die Anforderungen eines Space Shuttles erfüllt ?

  2. Ist es technisch realistisch und kann ein ordentliches Entwicklungsprogramm gestartet werden, um Mitte 1974 einen vorläufigen Flugbereitschaftstestdurchzuführen und anschließend die ersten flugfähigen Triebwerke auszuliefern ?

  3. Geben Sie die Top 10 technischen Problemfelder in der Reihenfolge ihrer Bedeutung an, die in dem Entwicklungsprogramm erwartet werden.

  4. Welche Designveränderungen wären notwendig und wie ist Ihre Einschätzung der Probleme, die sich ergeben, wenn nach Abschluß des Triebwerksdesigns eine 15 bis 25 % höhere Schubleistung erforderlich wäre ?

Weitere Fragen betrafen ein Heer von technischen Feldern: Turbinendesign für hohe Temperaturen, Hochgeschwindigkeits-Turbopumpen, Dichtungen und Pumpenlager, Bodentestanlagen und bordeigene Triebwerkstests durch Computer. Von Braun äußerte auch Bedenken hinsichtlich des Triebwerksmaterials, das spröde werden würde, wenn es dem heißen Wasserstoff bei hohen Drücken ausgesetzt wäre. Gleichzeitig sprach er Unzulänglichkeiten des Aerospike-Triebwerks an, das Probleme mit verzögerter Zündung, Instabilität des Verbrennungsprozesses, Quelle des heißen Gases für den Turbinenantrieb und Fragen hinsichtlich des Gewichtes der Komponenten und deren Effizienz hatte. (206)

Zu Beginn der Planungen ging man von einem zweistufigen, voll wiederverwendbaren System aus. Die NASA hatte geplant, das zu entwickelnde Triebwerk sowohl für den Treibstofftank (bemannter, rückfliegbarer Haupttank mit 12 Triebwerken) als auch für den Orbiter (2 Triebwerke) zu verwenden. Die Triebwerke sollten dabei einen Schub von 550.000 Pfund auf Seehöhe (Booster) sowie 632.000 Pfund im Vakuum (Orbiter) erreichen (389). Als einziges klar vorgegebenes Designmerkmal wählten die NASA-Shuttle-Manager im Oktober 1969 die Schubdüse aus, die glockenförmig sein sollte, da man damit die meiste Erfahrung gesammelt hatte. Die Leistungsanforderungen an das neue Triebwerk waren derart, daß nur ein Triebwerk mit hohem Brennkammerdruck und stufenweiser Verbrennung diese erreichten konnte.

Die Entschiedung zu Gunsten einer glockenförmigen Düse war ein herber Rückschlag für Rocketdyne, das acht Jahre lang "auf das falsche Pferd gesetzt" hatte. Pratt & Whitney hatte dagegen bereits eine Hochdruck-Schubkammer gebaut und getestet. Die NASA war jedoch auch nicht bereit, das XLR-129-Triebwerk zu akzeptieren, da es nur 215.000 Pfund Schub lieferte. Die Forderung nach einem höheren Schub war somit nur durch einen vollständig neuen Raketenmotor erreichbar, den Space Shuttle Main Engines (SSME).

Als Ergebnis entstand ein zweistufiges System mit Haupttriebwerken, die mit flüssigem Wasser- und Sauerstoff betrieben wurden. Das Triebwerk sollte die Treibstoffe unter Hochdruckbedingungen verbrennen und selbstkühlend sein. Das Grundmodell für den Orbiter sollte eine zweistufig regulierbare Düse mit Expansionsquotienten zwischen 58:1 und 120:1 besitzen und zwischen 7 Grad Neigungs- und Gierwinkel schwenkbar sein. Der Schub sollte zwischen 590.000 Pfund im Vakuum und 510.000 Pfund auf Seehöhe und die Leistung zwischen 73 und 100 % regulierbar sein. Außerdem sollte das Triebwerk auch im Vakuum des Alls 10 % seiner Leistung liefern können. Die Booster-Version des Triebwerks sollte eine feste Düse mit Expansionsquotienten von 5:1 besitzen und 500.000 Pfund Schub auf Seehöhe liefern.

Pratt & Whitney gewann den Wettbewerb der Phase A vor Aerojet. Rocketdyne wurde mit großem Abstand Dritter. Nachdem das Aerospike-Engine-Konzept ausgeschlossen wurde, machte Rocketdyne lediglich einen sehr konservativen Vorschlag, der auf einem verbesserten J-2-Triebwerk mit weiterentwickelten Dichtungen und Pumpenlagern basierte.

Main Engine Phase B

Im Februar des Jahres 1970 bat die NASA um Vorschläge zur Entwicklung der Shuttle- Haupttriebwerke. Im Juni 1970 (390) begann dann die "Phase B" mit Aufträgen an die drei Firmen Aerojet General, Pratt & Whitney und die Rocketdyne Division der North American Rockwell Corporation. Die Verträge hatten diesmal einen Wert von jeweils 6,675 Millionen Dollar. Der ursprüngliche Zeitrahmen von 11 Monaten wurde später von Mai 1971 auf den 23. Juni 1971 verlängert (389).
In "Phase B" wurden im Laufe eines Jahres Design-Studien, Programmdefinitionen und Testprogramme durchgeführt und einige technologische Fortschritte erzielt. Um den hohen Anforderungen an die Materialeigenschaften während des Triebwerksbetriebes gerecht zu werden, mußten hochbelastbare Legierungen entwickelt werden. Zu diesen gehören INCO-718, NARloy-Z, Gußtitan, Mar-M und IN-100. Ebenso wurden moderne, nichtmetallische Beschichtungen entwickelt. Besonderes Augenmerk verlangte die Beständigkeit der Materialien gegenüber flüssigem Sauerstoff. Mechanische Belastungstest begannen bereits in den 50er Jahren für ähnliche Triebwerke und wurden in den 70er Jahren intensiviert, um die extremen Betriebszustände der Triebwerke zu ermöglichen. Daher wurde ein neuartiges Testsystem für Flüssigsauerstoff bei Drücken bis 69 MPa entwickelt. Auch die Langzeiteinwirkung von Wasserstoff mußte erforscht werden, um eine vollständige Wiederverwendbarkeit zu erreichen. So entstand u.a. die größte Datenbank mit Materialeigenschaften für Raketentriebwerke.

Mit der großzügigen Finanzierung der Phase B hoffte die NASA 1970, relativ schnell eine Entscheidung über die Verträge für die Phase C und D der Shuttle-Entwicklung treffen zu können. Zumindest für die Space Shuttle Main Engines sollte diese Hoffnung in Erfüllung gehen. NASA-Administrator George Low hoffte auch auf ein schnelles Vorgehen hinsichtlich des Shuttle-Orbiters, wurde jedoch am 7. Dezember 1970 durch einen Telefonanruf von Donald Rice, einem Mitarbeiter des Office of Management and Budget (OMB) enttäuscht. Dieser teilte ihm mit, daß die nötigen Gelder nur teilweise genehmigt werden würden. Low erreichte lediglich, daß der weiteren Entwicklung der Haupttriebwerke zugestimmt und diese finanziert wurde. Das Space-Shuttle-Haupttriebwerk erhielt daher den provisorischen Namen Advanced Space Engine.

Im Verlauf der Phase B beendete am 18. August 1970 die Air Force und Pratt & Whitney ihr XLR-129-Programm und überführten es an die NASA. Damit wurde die Technologie, die die Basis für das zu entwickelnde Haupttriebwerk sein sollte, auch Aerojet und Rocketdyne zugänglich. Im letzten Test am 15. August 1970 zeigten Pratt & Whitney, daß sie zu den Favoriten für den Wettbewerb gehörten indem sie eine Wasserstoff-Turbopumpe bauten und testeten. Die Turbopumpe wurde bei diesem Test durch einen Vorbrenner angetrieben, einer eigenständigen Hochdruck-Brennkammer. Diese Arbeit hatte besondere Bedeutung, da sie ungewöhnlich schnell voranging. Innerhalb von zwei Jahren hatten die Ingenieure den Arbeitsdruck der Wasserstoffpumpe auf 6.000 psi gesteigert und erreichten 6.700 psi in weiteren 6 Monaten. Pratt & Whitney führten etwa 200 Brenntests mit diesen Pumpen durch. (206)

Da Aerojet General kaum Erfahrung mit Triebwerken auf Wasserstoff-Sauerstoff-Basis hatte, war die Firma kein ernsthafter Konkurrent gegenüber Pratt & Whitney und Rocketdyne.

Bei Rocketdyne leitete Vizepräsident Paul Castenholz, der früher Manager des J-2-Triebwerks- Programms war, die Bemühungen zur Entwicklung der Shuttle-Triebwerke. Er wußte, daß hier mehr vonnöten war als nur Papierkram. Daher initiierte er die Herstellung eines Triebwerksmodells in Originalgröße, das aus Vorbrennern zum Antrieb der Turbinen, einer Hauptbrennkammer mit Injektor und einer Triebwerksdüse bestand. Aus Zeitgründen wurde auf die Konstruktion von Turbopumpen vorerst verzichtet und die Triebwerkstests mit druckbeaufschlagten Tanks durchgeführt. Für den Bau wurden originale Materialien und Herstellungsprozesse genutzt, wie sie später für die Triebwerke zur Anwendung kommen sollten.
Da die Triebwerksstudie kein Geld für das Modell vorsah, wandte sich Castenholz an den Rocketdyne-Präsidenten William Brennan, der ihn schließlich an den Rockwell-International-Präsidenten Robert Anderson verwies. Dieser bewilligte hierfür 3 Millionen Dollar, so daß die Arbeit beginnen konnte.
Bei der Entwicklung galt es, Instabilitäten im Verbrennungsprozeß zu vermeiden. Rocketdyne begann mit einem Injektor, der auf dem J-2-Triebwerk basierte. Technische Veränderungen verbesserten eben diese Stabilität der Verbrennung. Auf dem Testgelände der Firma im Nevada Field Laboratory in der Nähe von Reno wurden die Triebwerkstests in horizontaler Anordnung des Triebwerks durchgeführt. Erste Brenntest erfolgten Ende 1970 mit einer ungekühlten Brennkammer mit dicken Wandungen. Da diese bei Dauerbetrieb rasch durchbrannten, wurden erste Tests nur zur Erprobung des Triebwerksstarts und der Zündmechanismen durchgeführt und dauerten nicht länger als 5 Sekunden.
Zu Beginn des Jahres 1971 war die gekühlte Brennkammer fertig. Die NASA-Anforderungen von 415.00 Pfund Schub, 14.670 fps Ausströmgeschwindigkeit und 3.000 psi Brennkammerdruck waren nun erreichbar. Der erste Test dauerte nur 0,35 Sekunden bei einem Brennkammerdruck von 2.084 psia, demonstrierte aber einen sicheren Start und stabile Verbrennung ohne Zerstörungen an der Hardware (205). Der zweite und letzte Brenntest erreichte am 12. Februar 1971 den vollen Schub für 0,45 Sekunden, konnte die Anforderungen deutlich übertreffen und lieferte 505.700 Pfund Schub bei 3.172 psi Brennkammerdruck sowie einer Abgasgeschwindigkeit von 14.990 fps. Die Ergebnisse waren nun auch besser als die des Konkurrenten Pratt & Whitney. Der Test zeigte weiterhin das thermische Gleichgewicht der gekühlten Brennkammer und einen exzellenten spezifischen Impuls. (205)
Als die NASA Ende Januar 1971 die Anforderungen an den Triebwerksschub auf 550.000 Pfund erhöhte, war Rocketdyne deutlich im Vorteil, da Pratt & Whitney bis dahin lediglich 350.000 Pfund Schub mit ihrem Triebwerk erreichten (390).
Paul Castenholz erinnerte sich später in einem Interview: " Das höchste Risiko, das ich jemals für ein Raketentriebwerk einging, war der Bau der Brennkammer in Originalgröße für diesen Vorschlag. Wir arbeiteten rund um die Uhr. Wir schliefen für einen Monat jede Nacht im Hospital von Rocketdyne."
Die Triebwerkstests in Nevada wurden mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgenommen. Diese wurden dann auf Präsentationen den NASA-Offiziellen vorgeführt. Castenholz präsentierte neben Filmen und parallelen Diaprojektionen vor allem auch sein Modell der Brennkammer. Nach einer solchen Präsentation sagte der von-Braun-Nachfolger Eberhard Rees: "Nun glaube ich wirklich, daß wir es schaffen."


Brenntest des Demonstrationstriebwerks von Rocketdyne auf dem Testgelände des Navada Field Laboratory in der Nähe von Reno im Februar 1971. (Photo: Rocketdyne via Heppenheimer (206))

Main Engine Phase C und D

Alle teilnehmenden Firmen der Phase B wurden am 1. März 1971 von der NASA aufgefordert, Vorschläge für Design, Entwicklung und Produktion von 36 Space Shuttle Main Engines abzugeben. Die Triebwerke sollten bis Ende 1978 fertiggestellt sein. Am 21. April 1971 reichten die drei Firmen ihre Vorschläge bei der NASA ein.
Ursprünglich war geplant, die Phase C mit zwei Vertragspartnern zu beginnen. Später änderte sich auch dieses Konzept, so daß, wohl aus Kostengründen, nur noch eine Firma ausgewählt werden sollte (389).

Das Rocketdyne - Konzept

Die Unterlagen von Rocketdyne umfaßten eine Hauptzusammenfassung, eine siebenbändige technische Beschreibung, eine Betriebsanleitung mit 5 Bänden und 87 Bände zugehöriger Daten also insgesamt 100 Bände mit technischen Daten und Kostenvoranschlägen. "Tausende von Seiten und wunderbar präsentiert", erinnerte sich Paul Castenholz später. "Ein dickes Dokument, das sich jedem Detail widmete: welche Materialien verwendet wurden, Bilder des Herstellungsprozesses, der benutzten Werkzeuge, wie viele Tests durchgeführt wurden, jeder Test, warum, wo."
Das Kernstück des Rocketdyne-Vorschlags war das für 3 Millionen Dollar selbstfinanzierte Modell des Triebwerkskopfes in Originalgröße. Dieses Modell führte die technologischen Anforderungen für die stufenweise Verbrennung unter Hochdruckbedingungen klar vor Augen und war letztlich ausschlaggebend für die Entscheidung der NASA.


Die Bibliothek mit den Bänden des Rocketdyne-Vorschlags. Im Hintergrund die anfangs noch verstellbare Schubdüse und das Modell des Triebwerkskopfes. (Photo: Rocketdyne No. SC89c-4-1086 via Biggs)

Schließlich wurde am 13. Juli 1971 die Rocketdyne Division der Firma North American Rockwell, Canoga Park, Kalifornien (später Rockwell International) als Gewinnerin des Wettbewerbes um die Entwicklung der Haupttriebwerke für das geplante Space Shuttle ausgewählt. Mit der Entscheidung der NASA wurde der Auswahlprozeß verkürzt, da eigentlich erst am Ende der Phase C ein einziger Auftragnehmer als Sieger des Wettbewerbes ausgewählt werden sollte.

Nach einigem Hin und Her auf Grund eines Protestes von Pratt & Whitney gegen die Entscheidung, der letztlich am 31. März 1972 abgewiesen wurde, wurde am 5. April 1972 ein vorläufiger und am 14. August 1972 der endgültige Vertrag unterzeichnet. Dieser hatte eine Laufzeit von 40 Monaten und einen Wert von 202.766.000 Dollar.

Die NASA wählte damit ein Triebwerk, das eine bedeutende technologische Neuentwicklung und Abkehr von den Triebwerken des Apollo-Programms darstellte. Erstmals sollten Triebwerke mit Flüssigwasserstoff und Flüssigsauerstoff als Treibstoffe und mit einem doppelten Vorbrenner zur präzisen Einstellung des Mischungsverhältnisses entwickelt werden, die eine halbe Million Pfund Schubkraft besaßen und zwischen 50 und 109 % Schubstärke steuerbar sein sollten. Sie sollten einen Computer-Controller (Main Engine Controller - MEC) mit voll redundantem Sicherheitssystem (fail operate, fail safe) besitzen, der alle Triebwerksfunktionen überwacht und kontinuierliche Selbsttests durchführt, und für eine Lebensdauer von bis zu 100 Flügen ausgelegt sein.


Rocketdyne-Vizepräsident und Programm-Manager Paul Castenholz mit dem Modell des Space Shuttle Main Engine Triebwerkskopfes. (Photo: Rocketdyne No. SC89c-4-1096 via Biggs)

Die Anforderungen

Während der Wettbewerbsphase wurden die Vorgaben für das Shuttle-System ständig überarbeitet und neu definiert. Ende Januar 1971 wurden die Vorgaben für die Treibwerksleistung von der NASA grundlegend verändert. Das Triebwerk sollte nunmehr 550.000 Pfund Schub liefern, um Anforderungen des Verteidigungsministeriums an eine größere Nutzlast erfüllen zu können. Zur gleichen Zeit fiel die Entscheidung für einen digitalen Computer- Controller.
Am 13. November 1970 fiel die Entscheidung zugunsten einer Konfiguration mit drei Haupttriebwerken. Ausschlaggebend waren Sicherheitsbedenken gegenüber einer Variante mit zwei Triebwerken.
Im Dezember 1971 entschieden sich die NASA-Manager für die parallele Zündung der Orbiter- und der Boostertriebwerke beim Start.

Am 15. März 1972 wurde dann endlich die Entscheidung über die Art der Zusatzbooster veröffentlicht. Kosteneinsparungen führten zur Streichung des wiederverwendbaren Haupttankes zugunsten preiswerter zu entwickelnder, wiederverwendbarer Feststoffbooster. Daher konnten die Haupttriebwerke nun für das Space Shuttle optimiert werden.

Ab Mai 1972 wurden die Leistungsvorgaben des geplanten Triebwerks festgelegt. Der erforderliche Schublevel wurde auf 470.000 Pfund mit der Möglichkeit der Erhöhung auf 109 % in Notfallsituationen reduziert. Da die Triebwerke auf Seehöhe starten sollten, wurde dadurch der Düsenflächenausdehnungsverhältnis auf 77,5 : 1 limitiert. In den folgenden zwei Monaten wurden über 250 strittige Punkte geklärt. Die letzten Definitionen der physischen, elektrischen und funktionellen Verbindungen konnten erst festgelegt werden, nachdem die Space Division der North American Rockwell Corporation am 26. Juli 1972 für die Entwicklung und den Bau der Raumfähren ausgewählt worden war. Ein erstes Meeting fand am 10. August 1972 bei Rocketdyne statt. In verschiedenen weiteren technischen Meetings im Verlaufe des Jahres 1972 wurden Probleme und Schnittstellenfragen zwischen der NASA und verschiedenen Auftragnehmern geklärt. Daraufhin wurden zwei Hauptdokumente zu Designanforderungen der Raumfähre veröffentlicht.

Das Dokument zur Schnittstellenkontrolle (Interface Control Document - ICD) erschien am 9. Februar 1973. Es enthielt die Anforderungen an das Triebwerk hinsichtlich der Schnittstellen zwischen Orbiter und Triebwerk. Dies schloß Triebwerksgröße, -gewicht und -schwerpunkt, Größe, Toleranzen und strukturelle Anforderungen an alle physischen Schnittstellen sowie Anforderungen an Elektroenergieversorgung, Frequenzen und Phasenlage ein. Desweiteren wurden Computerkommando- und -datenformate, Fehlerbehandlungsverfahren und Triebwerksumgebungs- und Triebwerksleistungsanforderungen dokumentiert.

Am 10. Mai 1973 erschien das zweite Dokument, die Triebwerksspezifikation (Contract End Item Specification - CEI). Es enthielt detaillierte Beschreibungen der Anforderungen an Triebwerkstestung, Vorstart-, Start-, Funktions- und Abschaltverfahren, Wartungsintervalle und Wartung selbst sowie Kriterien für die Hitze-, Vibrations-, Erschütterungs-, akustische und aerodynamische Belastungen. Desweiteren wurden Materialeigenschaften, Zurückverfolgbarkeit und Kontrolle des Herstellungsprozesses, Anforderungen an die Redundanz des Kontrollsystems und notwendige Sicherheitsfaktoren beschrieben. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des CEI sollte das Triebwerk ein Trockengewicht von 6.445 Pfund gegenüber 6.892 Pfund nach Betrieb (Brennschluß) haben (208).

Nach Erscheinen dieser Basisdokumente wurden nur noch wenige Änderungen vorgenommen. Die drei wesentlichsten Änderungen im Rahmen der Shuttle-System-Definition sind:

  1. Ursprünglich sollten die Triebwerke für 100 Flüge und 27.000 Sekunden Brenndauer, einschließlich sechsmaligen Betriebs im Notfall-Modus (Emergency Power Level - EPL) mit 109 % Leistung, ausgelegt sein. Es war seinerzeit geplant, die Shuttle-Triebwerke erst in größerer Höhe zu zünden. Später forderte die NASA Veränderungen, die keine Limitierung der EPL-Nutzung mehr erforderlich machten. Die Triebwerke sollten nun bereits beim Start gezündet werden, was eine längere Brenndauer zur Folge hatte. Die Lebensspanne von 27.000 Sekunden Brenndauer sollten demnach 55 Flügen entsprechen. Auch hatten Risikoanalysen ergeben, daß eine Limitierung nicht erforderlich wäre, wenn Betriebsdauer auf 55 Flüge begrenzt wäre. Daher wurde EPL in Full Power Level (FPL) umbenannt.

  2. Das Treibstoffmischverhältnis sollte ursprünglich zwischen 5,5 und 6,5 regulierbar sein. Nach der Neudefinition der Anforderungen an das Shuttle wurde der Bereich zuerst auf 5,8 bis 6,2 verändert und dann auf einen festen Wert von 6,0 festgelegt. Dadurch konnten die Systemdrücke und Turbinenlauftemperaturen reduziert werden.

  3. Zu Beginn des Jahres 1978 schloß eine definitive Analyse der Shuttle-Flugbahn die Notwendigkeit aus, daß der Schub während der Phase der maximalen aerodynamischen Belastung auf 50 % gedrosselt werden müsse. Daraufhin wurde das Minimum Power Level (MPL) von 50 auf 65 % angehoben, was wiederum Systemanforderungen zurückschrauben konnte.

Entwicklung des endgültigen Triebwerkes und das DVS-Programm

Nach Abschluß des Vertrages zwischen NASA und North America Rockwell 1972 begannen die Entwicklungsarbeiten des endgültigen Triebwerkes. Die Entwicklung erfolgte in verschiedenen Perioden.

Zur Überwachung und Steuerung des Entwicklungs- und Herstellungsprozesses der Main Engines etablierte die NASA das Design-Spezifizierungs-Programm (Design Verification Specification - DVS). In diesem Programm sollten alle Designanforderungen in einer logischen Abfolge nachgeprüft werden. Es wurden eine Reihe von Design-Spezifizierungen entwickelt, die eine Zusammenstellung aller Anforderungen an die Triebwerke aus ICD, CEI und anderen Dokumenten darstellten. Die Gesamtanforderungen an das Triebwerk waren in DVSSSME-101 enthalten. Die DVS' der einzelnen Komponenten hatten gleichartige Bezeichnungen. Jede einzelne Anforderung war aufgelistet, die Quelle angegeben und die Methoden der Verifizierung (Beweis, daß das Design den Anforderungen entspricht) und der Validisierung (Beweis, daß die Anforderung richtig ist) wurden spezifiziert. Für Verifizierung und Validisierung wurden Analysen, Inspektionen der Hardware, Labortests sowie Hot-fire Tests der Subsysteme und der Triebwerke selbst herangezogen. Mit Nachdruck wurde daran gearbeitet, die notwendigen Nachweise bei möglichst niedrigen technischen Anforderungen zu erbringen. Diese Anforderungen stellten dann die Basis für das Programm zur Entwicklung der Main Engines dar. Der Fortgang der Entwicklungen einiger kritischerer Komponenten wurde zwingend an den Abschluß bestimmter Schlüsselaufgaben als Kontrollpunkte gekoppelt. Zusätzlich wurden durch die NASA und andere Regierungsstellen weitere Kontrollmechanismen eingesetzt. Diese unterteilten sich in drei Kategorien: Design-Überprüfungen, Triebwerkstests und formale Darstellungen.

Entwicklungsperiode A begann nach Vertragsunterzeichnung 1972. Eine vorläufige Design-Überprüfung (Preliminary Design Review - PDR) wurde von der NASA bereits während der Wettbewerbsphase 1970 mit allen Bewerbern durchgeführt. Unmittelbar nach dem definitiven Vertragsabschluß fand das offizielle PDR mit dem Design der Firma Rocketdyne statt. Hier wurden nochmals technische Einzelheiten besprochen, die während des Wettbewerbs zu sensibel waren, um dargelegt zu werden. Das PDR wurde mit einem Aktions- und Zeitplan im September 1972 abgeschlossen. Die erste Vertragsperiode beinhaltete den Kauf von drei Entwicklungstriebwerken.
Im Verlauf des Entwicklungsprozesses fanden vierteljährlich Expertentreffen (technical reviews) statt. Außerdem wurde der Fortschritt der Arbeiten an den Triebwerken in wöchentlichen Telefonkonferenzen überprüftt. Zusätzlich fand für die Main Engines im Juli 1975 ein Design Margin Review statt. Hier konnten Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Triebwerkskomponenten ausgeräumt werden. Die meisten Komponenten hatten demnach einen höheren als den minimalen Sicherheitsfaktoir von 1,4 (208).
Die nächste Stufe des Entwicklungsprozesses war die kritische Design-Überprüfung (Critical Design Review - CDR), die im ersten Quartal 1976 stattfinden sollte. Im Rahmen der Neuausrichtung des Programms 1974 wurde der Termin dann verschoben und das CDR letztlich im September 1976 abgeschlossen. Bis dahin wurde durch Tests dreier Entwicklungstriebwerke gezeigt, daß die Triebwerke gestartet, im normalen Power Level betrieben und sicher abgeschaltet werden konnten. Das CDR stellte den Abschluß der Periode A dar.

Hauptaufgabe des CDR war, nachzuweisen, daß die Entwicklungsarbeiten so weit fortgeschritten waren, daß die Herstellung der ersten Triebwerke für den Flugbetrieb beginnen konnte. Die Überprüfung wurde von vier separaten Teams mit den Managern Carlyle Smith, John McCarty, Walt Mitchell und Zack Thompson vom Marshall Space Flight Center organisiert. Schwachstellen, Fragen, notwendige Designveränderungen und andere notwendige Aktionen wurden als zu überarbeitende Punkte (Review Item Dispositions - RID) dokumentiert und von den Teamleitern an das CDR-Gremium übergeben. Zusätzlich fand eine Vorbesprechung mit Jerry Thomson, dem Chefingenieur für die Haupttriebwerke statt. Empfehlungen aus dieser Vorbesprechung wurden ebenfalls vom CDR-Gremium unter der Leitung von Bob Thompson, dem SSME- Projektmanager, zur Verbesserung angenommen. Insgesamt wurden 105 Punkte zur Überarbeitung festgelegt, von denen 86 zusätzliche Anstrengungen von Rocketdyne erforderten. Zum Abschluß des CDR am 27. September 1976 lag das Baseline-Design der Space Shuttle Main Engines vor. Zukünftige Änderungen bedurften nun einer formalen Überprüfung durch die NASA. Die Produktion der ersten Triebwerke für den Flugbetrieb konnte jetzt erfolgen.

Periode B der Triebwerksentwicklung begann nach Abschluß des CDR. Sie beinhaltete die Produktion von 7 Entwicklungs- und 7 flugfähigen Triebwerken. Außerdem wurde in weiteren Triebwerkstests die stabile Triebwerksleistung im normalen Power Level (100 %), wie sie für die ersten Shuttle-Flüge notwendig war, bestätigt und die Triebwerksfunktion im Full Power Level (109 %) getestet, die für spätere Shuttle-Flüge erforderlich sein sollte (später gestrichen und nur für Notfallsituationen zertifiziert worden). In dieser Periode erfolgte auch die vorläufige Flugzertifizierung (Preliminary Flight Certification - PFC). Periode B endete mit der Zertifizierung der Triebwerke für 109 % Leistung in Notfällen (125).

Periode C umfasste schließlich die Herstellung 15 weiterer flugfähiger Triebwerke sowie die Gewährleistung des Flugprogramms der Raumfähren einschließlich der Lösung auftretender Probleme, Ersatz und Überholung der verwendeten Triebwerke. Nach Zertifizierung der Triebwerke für den Full Power Level waren Weiterentwicklungen geplant, die zur geplanten Lebensdauer der Triebwerke von 55 Flügen und zu noch höherer Schubleistung führen sollten. Die Tests zur vorläufigen Flugzertifizierung waren zu Beginn des Jahres 1979 abgeschlossen.

Anfang 1979 führte die NASA eine Testflug-Design-Überprüfung (Orbital Flight Test Design Certification Review - OFT DCR) aller Shuttle-Bestandteile durch. Der Triebwerksteil dieser Überprüfung wurde ähnlich dem CDR mit Joe Lombardo als Vorsitzenden der Vorbesprechung und Bob Thompson als Vorsitzenden des SSME- Gremiums organisiert. Das DCR hatte die Aufgabe, den Status aller Designanforderungen zu überprüfen und nachzuweisen, daß die Triebwerke flugtauglich waren. Der Triebwerksteil des DCR wurde im April 1979 abgeschlossen.

Bereits ab 1974 fanden Brenntests der Triebwerkskomponenten und ab 1975 Tests einzelner Triebwerke statt. Nach Überwindung anfänglicher Hürden und Mißerfolge wurden erolgreich Triebwerksstart- und abschaltsequenzen entwickelt. Anschließend erfolgte die Zertifizierung der Triebwerke. Sämtliche Triebwerkstests fanden im späteren Stennis Space Center, Mississippi und in den Santa Susana Field Laboratories in Kalifornien statt.
Der bedeutendste Kontrollpunkt der DVS' war der Erstflug des Space Shuttles. Zu diesem Zeitpunkt wurden 991 DVS-Punkte abgeschlossen. Zum Abschluß des DVS-Programms nach dem Erstflug waren 4.566 Labortests und 1.418 Hot-fire-Test von Subsystemen durchgeführt worden. Bei 726 Triebwerksbrenntests wurde eine Brenndauer von 110.253 Sekunden erreicht (205).

Am 11. März 1975 wurde das erste Space-Shuttle-Haupttriebwerk fertiggestellt und 25. März 1975 mit einmonatiger Verspätung an die NASA ausgeliefert. Schließlich fand nach dreizehn Jahren Entwicklungsarbeit am 12. April 1981 der Erstflug der neuartigen Space Shuttle Main Engines statt.

Quellen: 3, 8, 12, 34, 35, 36, 99, 125, 205, 206, 208, 388, 389




2. September 2007, 12:57:57 (weitere Updates nur auf Anfrage)
letztes Update: 18. Juli 2010, 17:34:49